Gedanken zur Zeitenwende und zur Zeitumstellung

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Was haben Shutdown, Gendersternchen, Enkeltag, Framen oder Faktenchecker gemeinsam? Sie gehören zu den 3000 neuen Wörtern, um die die deutsche Sprache im neuen Duden erweitert wurde. Sprache bildet neue Befindlichkeiten oder Entwicklungen ab. Manchmal erhalten in diesem Kontext auch längst bestehende Worte eine neue Bedeutung.


So ist aktuell häufig von Zeitenwende die Rede, wenn es um politische Verwerfungen geht. Wir müssen wieder «kriegstauglich» werden, gilt mittlerweile sogar in Deutschland als salonfähig, das die Welt vor 85 Jahren in den Abgrund geführt hat. Das gängige Narrativ ist, dass ein Krieg Konflikte lösen könne oder gar gerechtfertigt sei. Du sollst nicht töten! galt, wenn überhaupt, vor dieser Zeitenwende.
Aber was ist eigentlich die Zeit? Und kann sie sich ändern, sich also (oder wir sie) «wenden»?

Chronos und Kairos

Die alten Griechen hatten zwei Bezeichnungen für die Zeit: Chronos und Kairos.

Der griechische Gott Chronos stand für den tickenden Sekundenzeiger, für die fallenden Körner der Sanduhr, für die Zeit, die wir messen können. Alles «kostet» Zeit. Sie bestimmt unseren Alltag, Meetings, Events, Termine. Wir dürfen sie nicht «verschwenden» oder uns in ihr verlieren, weil wir sonst nicht mehr produktiv oder effizient sind. Und wenn wir die Zeit nicht sinnvoll nutzen, löst dies Stress oder Unbehagen aus: psychosomatische Symptome können dann folgen und sogar «chronisch» werden.

Kairos hingegen ist der Gott des rechten Augenblicks, in dem sich Dinge entscheiden oder wesentlich werden. Er verlangt Achtsamkeit, denn der richtige Moment oder Zeitpunkt ist flüchtig. Zeit in diesem Sinn ist also viel mehr als das Ticken der Uhr.

Man könnte auch sagen: Chronos ist das quantitative Zeitempfinden, Kairos ein qualitatives. Chronos steht für Erfahrungen, Kairos für Möglichkeiten. Chronos ist die Vergangenheit und die Zukunft, Kairos ist die Gegenwart. Oder noch pointierter: Chronos ist beschränkt, Kairos ist dimensionslos.

Eckhart Tolle gibt in seinem Bestseller «Power of Now» viele Hinweise darauf, dass es im eigentlichen, wesentlichen Sinn nur die Gegenwart gibt. Nur in diesem Moment können wir sein, wirken, erschaffen. Wir können verpassten Chancen nachtrauern oder von der Zukunft träumen, aber bewusst leben können wir nur jetzt, in diesem Moment.

Mit anderen Augen

Ich weiss um deine Geschichten
Du hast sie nicht erzählt
aber man spürt die Dinge
auch ungesagt.

Ich erahne deine Liebe
Du hast sie nie bekannt
aber mein Herz schlägt für dich
einfach so.

Ich glaube an unseren Weg
Es gibt keine Wegweiser
aber sanfte Markierungen
in stillen Momenten.

Ungefähre Landschaften
und doch ertaste ich
jeden einzelnen Grashalm
dort
wo du bist
und wo auch ich
sein möchte
mit dir.

--
Wolfgang Weigand

Verändertes Zeitgefühl

1962 verbrachte der französische Geologe Michel Siffre in einem Selbst-Experiment zwei Monate alleine ohne Uhr in einer Höhle. Als er nach 58 Tagen wieder aus der Höhle geholt wurde, glaubte er, er sei nur 25 Tage dort gewesen. Sein Körper hatte sich vollkommen auf einen 48-Stunden-Rhythmus umgestellt. Er blieb 36 Stunden wach und schlief dann zwölf Stunden, sein Zeitgefühl hatte sich stark verändert.

Das Empfinden für die Zeit schwankt aber auch zwischen endloser Langeweile, wie wir sie zum Bespiel in Kindheitstagen erlebt hatten, und der rasend schnell vergehenden Zeit, wenn wir zum Beispiel frisch verliebt sind oder uns im Flow befinden, also in einem glücklichen Zustand, in dem wir die Zeit vollkommen vergessen, und nur noch Augenblick sind. Auch im Alter scheint die Zeit wesentlich schneller zu vergehen, weil immer weniger signifikante Erfahrungen gemacht und im Gedächtnis gespeichert werden, dagegen immer mehr Vorgänge mehr oder weniger automatisch ablaufen.

Zeitumstellung am 27. Oktober

Am nächsten Sonntag werden die Uhren in der Nacht wieder um eine Stunde zurückgestellt. Die Winterzeit ist die „normale“ Zeit. Es ist nur eine Stunde – aber dennoch hat jeder vierte Mensch mit der Zeitumstellung zu kämpfen. Denn die verschobene Stunde, egal ob nach vorne oder nach hinten, hat Auswirkungen auf unseren Biorhythmus, auf die sogenannte innere Uhr, welche die menschliche Lebensweise von Geburt an bestimmt. An den Tagen nach der Zeitumstellung vergeht die Zeit oft rasend schnell und wir verspüren tendenziell mehr Müdigkeit und Niedergeschlagenheit.

Die Zeit ist ein Phänomen, nicht greifbar, wundervoll oder belastend, schnell wie im Flug oder zäh vergehend, einmalig oder monoton. Sie ist da, auch wenn wir ihrer nicht bewusst sind, sie vergeht, unaufhaltsam. Sie lässt sich nicht anhalten, aber sie lädt ein, immer wieder mal inne zu halten, wenn wir spüren, dass jetzt ein richtiger Zeitpunkt, ein Kairos, gekommen ist, in dem Wesentliches geschehen will, in dem sich Begegnung ereignet, Nähe, Mitgefühl, oder einfach ein Augenblick des Innehaltens. Und manchmal braucht es solches Innehalten, damit der Kairos überhaupt spürbar wird.

Noch einmal leben

Die Zeit macht das Leben kostbar, gerade weil sie so vergänglich ist. Jorge Luis Borges hat das so formuliert:

Wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte,
würde ich viel mehr Fehler machen.
Ich würde entspannen.
Ich würde viel verrückter sein als in diesem Leben.
Ich wüsste nur wenige Dinge, die ich wirklich sehr ernst nehmen würde.
Ich würde mehr Risiko eingehen.
Ich würde mehr reisen.
Ich würde mehr Berge besteigen, mehr Flüsse durchschwimmen
und mehr Sonnenuntergänge betrachten.
Ich würde mehr Eis und weniger Salat essen.
Ich hätte mehr echte Probleme und weniger eingebildete.

Wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte,
würde ich bei den ersten Frühlingsstrahlen barfuss gehen
und vor dem Spätherbst nicht damit aufhören.
Ich würde vieles einfach schwänzen.
Ich würde mehr Achterbahn fahren.
Ich würde öfter in der Sonne liegen.


Es ist immer wieder Zeit, eine «Wende» einzuschlagen, eine Zeitenwende nicht nur im Politischen, sondern auch im eigenen Leben.

Ich wünsche dir, euch und Ihnen immer wieder die Freude am zweckfreien, beschwingten, «zeitlosen» Leben, trotz und in Allem. Und immer wieder Momente dieses «Kairos», in dem wir spüren: Jetzt ist die Zeit, Dinge zu tun, Altes loszulassen, Neues zu wagen, inne zu halten. Jetzt ist die Zeit, dem Herbst sein Sterben zu ermöglichen, im Wissen darum, dass nach einem langen Winterschlaf das Leben wieder neu beginnen darf im Frühling.
Jetzt ist die Zeit für die Zeitenwende …