Von der Fülle des Lebens

Eingeständnis

Ich lese barfuss
die Kieselsteine am Meer
in Blindenschrift,
höre im Schweigen
die Herztöne des Universums,
suche in deinen Briefen
letzte Spuren von Vertrauen
zwischen den Zeilen.

Ich bin Kind geblieben
der Phantasie
noch nicht gestorben.
Ich bin
noch immer.

Aus: Wolfgang Weigand, Unentwegt
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022

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Ja, noch immer sein, der Phantasie nicht gestorben, das Leben spüren, im Einklang mit sich selber und mit der Umgebung! Das ist gar nicht so einfach in diesen Zeiten, an denen vieles erodiert und brüchig wird, was uns zuvor im Leben gehalten hatte: der Glaube an die Kraft des Friedens, an die Macht des offenen Dialogs, Wertschätzung für verschiedene Meinungen. Und vielleicht ja: auch das Vertrauen …


… in die Fülle des Lebens, das wir bei der Widersprüchlichkeit der Menschen und der Welt, so der Philosoph Wilhelm Schmid, meist nur als «Fragmente der Fülle eines glücklichen Augenblicks» erleben. Viele Menschen sind auf der Suche nach neuen Leitplanken und Ankerpunkten für ihr Leben, das aus den Fugen geraten scheint.

«Koyaanisqatsi» sagt ein indianisches Wort für «Die Erde ist aus dem Gleichgewicht». Wahrscheinlich gibt es kein entsprechendes Wort für den Verfall demokratischer Werte oder gesellschaftlichen Zusammenhalts. Cancel Culture und «Delegitimierung» anderer Positionen bzw. Ausgrenzungen im Diskurs scheinen manchmal tatsächlich die Oberhand zu gewinnen. Wie gelingt es da, sein Gleichgewicht zu behalten, ohne Angst vor Ablehnung der Intuition des Herzens zu folgen, oder im Authentizitätsmodus zu bleiben, um sich nicht zu verbiegen?

Geradlinigkeit

Sich selber
treu zu bleiben,
setzt voraus,
dass man weiß,
wer man ist.

Wer sich
selbst nicht kennt,
würde Untreue
einfach mit Abwechslung
verwechseln.


Im Gleichnis des Guten Hirten (10. Kapitel des Johannes-Evangeliums) sagt Jesus: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.» Die Schafe kennen ihren Hirten, es geht um Vertrautheit, Heimatgefühl, vielleicht sogar um Würde: jedes einzelne Schaf zählt, für jedes würde der Hirte durchs Feuer gehen. Ihm zu folgen lohnt sich, weil er nicht entzweit, blossstellt oder unterdrückt, sondern voller Empathie ist.

Die Fülle des Lebens – da fallen mir viele Begriffe ein. Glück, Sinn, Freude, Vitalität, Inspiration, Kreativität, Geborgenheit, Begegnungen, Nähe, Freundschaft, Feste, ein Stück Kuchen für die Nachbarn, das Eintauchen in ein berührendes Buch, Stand Up Paddeln auf dem Bodensee, der Regenbogen nach einem Sommergewitter, Bergwanderungen, Stille und Staunen. Und ein Lachen irgendwo. Der Clown in Heinrich Bölls ‹Ansichten eines Clowns› sagt: «Ich bin ein Clown, ich sammle Augenblicke». Vielleicht glückliche Augenblicke, von denen Wilhelm Schmid schreibt. Ja, zur Fülle gehören Momente, in denen das Glück aufscheint. Und vielleicht auch Klänge und Lieder.

Gesang

Leben heisst
Brücken schlagen
auf fremden Balkonen sitzen
und die Welt
neu entdecken.

Liebe heisst
Grenzen überschreiten
in Begegnungen eintauchen
und die Zeit anhalten.

Singen,
dass wir im Lieben leben
und im Leben lieben.

Und im Augenblick da sind
als ob nichts sei
und dennoch alles …

Das Leben in Fülle dürfen wir uns wieder zurückerobern in einer Welt, die etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es bringt die unruhige Kompassuhr vielleicht langsam in die richtige Richtung zurück. Ja, es ist eine Einladung an mich – trotz und mit allem, was in meiner kleinen Welt um mich herum und in der grossen weiten Welt da draussen geschieht. Und dafür ist manchmal sogar ein konstruktiver Trotz sehr hilfreich …

Trotz allem

Eines Tages
werden wir uns
auseinanderdividieren
und die Landkarte unserer Liebe
neu vermessen.

Eines Tages
werden wir
unseren Halt aneinander verlieren
wie Briefe
voller sich auflösender Buchstaben.

Eines Tages
werden die Worte füreinander
verstummen
weil schon alles gesagt ist
zwischen uns.

Aber bis dahin
lasst uns trinken
und miteinander schlafen
und die Zeit vergessen
und so leben
als ob es
eines Tages
nicht geben würde.

Jetzt ist die Zeit, Brücken zu schlagen, die Herzenstüre zu öffnen, um dem Leben in Fülle wieder Einlass zu gewähren.

Jetzt ist die Zeit, nicht mehr zu warten (auf Godot, aufs Schicksal, auf bessere Zeiten, worauf auch immer). Jetzt ist die Zeit, damit wir sie vergessen und nur noch Augenblick sind. Und selbst wenn das nicht immer gelingt: «Es gibt auch ein erfülltes Leben trotz vieler unerwünschter Wünsche». Das wusste bereits Dietrich Bonhoeffer.

Ich wünsche dir / euch / Ihnen allen beglückende und bewegte Sommertage, ein wenig Ferienglück, wo auch immer, kostbare Momente. Und wärmende Sonnenstrahlen…